Montag, 24. September 2012

Marikana - nur vordergründig ein Lohnkonflikt


Zuerst sah es ganz nach einem klassischen Fall von Ausbeutung aus: Afrikaner schuften unter Tage, riskieren ihr Leben und bekommen dafür dann gerade mal 400 Euro im Monat. Kein Wunder, dass die Bergleute von Marikana streikten. Die Mine gehört Lonmin, einem in London ansässigen Unternehmen, das unter dem Namen Lonrho ohnehin eine unappetitliche Vergangenheit in Afrika hatte.
Doch wie konnte das sein im „neuen Südafrika“, das der ANC dominiert, in dem die ohnehin starken Gewerkschaften mitregieren, das moderne Arbeitsgesetze und –regelungen kennt, in dem die früher Benachteiligten über Black Empowerment, Quotenregelungen und Zielvorgaben für einzelne Branchen, darunter die Minen, besser gestellt und gefördert werden sollen?
Am Ende des wilden Streiks hatten die Kumpel eine kräftige Lohnerhöhung erstritten - je nach Einstufung zwischen 11 und 22 Prozent. Damit kommen einige von ihnen in die Nähe der angestrebten 1250 Euro im Monat. Das kann man nur dann eine Verdreifachung nennen, wenn man Netto mit Brutto vergleicht. Denn die von den rock drillers und ihrer Gewerkschaft behaupteten 400 Euro sind so etwas wie der „gefühlte“ Lohn: das, was sie netto ausgezahlt bekommen, während 1250 Euro die dem Unternehmen nun entstehenden Kosten sind. Jedenfalls für die fest Angestellten, das sind zwei Drittel aller bei Lonmin Beschäftigten.
Die komplexe Realität Südafrikas liegt zwischen diesen Zahlen. Man kann in Südafrika gleichzeitig einigermaßen verdienen, krankenversichert sein, Urlaubsgeld bekommen, Rentenbeträge ansparen, Wohngeld kassieren und dennoch eine elende Existenz führen.
Für die Arbeiter zählt erst einmal das Netto. Vom dem müssen die meisten nämlich in der Regel eine größere Anzahl von Menschen mit ernähren, Frau und Kinder, oft auch weitere Verwandte. Der Klassenkampf der Arbeiter ist also verbunden mit der Not der Arbeitslosen (geschätzt auf 25 bis 40 Prozent) und Abhängigen. Selbst Facharbeiter können so der Armut kaum entkommen.
Weil viele Beschäftigte in den Minen immer noch Wanderarbeiter sind, haben einige auch zwei Familien - eine zuhause auf dem Land und eine dort, wo sie leben. Hinzu kommen weitere Folgen der Apartheid. Die Minen sind gehalten, die früheren Männerheime in akzeptable Wohnunterkünfte umzubauen – und tun das teilweise auch. Da das aber aufwändig ist, zahlen sie den Arbeitern als Alternative nicht ungern ein Wohngeld von immerhin 180 Euro. Die haben so mehr Bargeld für ihre vielfältigen Verpflichtungen, leben dann aber in billigen Behausungen in der Umgebung der Minen. Und weil sie nie genug Geld in der Tasche haben, nehmen sie monatlich kleine Kredite auf, für die dann hohe Zinsen und Gebühren fällig werden. Zahlen sie nicht zurück, kann der Kreditgeber Lohnpfändung erwirken.
45 Menschenleben hat der wilde Streik bei Lonmin gekostet, die meisten wurden von der Polizei erschossen. Was während der sechswöchigen Auseinandersetzung ans Tageslicht gefördert wurde und für die meisten Südafrikaner schmerzlich ins Bewusstsein gerückt ist, sind Eigeninteresse, Rücksichtslosigkeit und Versagen fast aller Seiten.
Das beginnt mit der einst so respektierten Gewerkschaft National Union of Mineworkers (NUM), die zwar eine Lohnerhöhung von neun Prozent ausgehandelt hatte, deren Funktionäre aber inzwischen so abgehoben leben und so arrogant sind, dass die Arbeiter sich von ihnen nicht mehr vertreten fühlen. Sie erleben sie als vom Management kooptiert und dadurch kompromittiert. "We hate Zokwana" haben die demonstrierenden Arbeiter gerufen - das galt dem NUM-Präsidenten Sewani Zokwana.
NUM hat viele Mitglieder verloren. Um als Tarifpartner anerkannt zu werden, müssen aber aber 51 Prozent der Belegschaft bei der Gewerkschaft organisiert sein. Deshalb ist der Kampf um die Kumpel so heftig. Die noch junge Gewerkschaft Association of Mineworkers and Construction Union (AMCU) hat viele Arbeiter abwerben können, indem sie ihnen in der krisengeplagten Platinindustrie eine massive Lohnerhöhung versprochen und sie so zum wilden Streik ermuntert hat.
Die das Land regierende Allianz aus African National Congress (ANC), Gewerkschaftsdachverband COSATU und der Kommunistischen Partei (SACP) hat erst einmal den Kopf in den Sand gesteckt und dann die Polizei geschickt. Und selbst nachdem die Beamten 34 Protestierende erschossen hatten, gab es nur einige halbherzige Versuche zur Kontaktaufnahme. Die 270 Arbeiter, die man festgenommen hatte, wurden nach einem alten Apartheid-Gesetz wegen Mordes angeklagt. Das Gesetz, das einst den Rückhalt des ANC in der Bevölkerung schwächen sollte, war nie abgeschafft worden. Erst nach massiven Protesten wurden die Anklagen ausgesetzt.
Regierung und Gewerkschaften schimpften über die "anarchischen Kräfte" und drohten Unruhestiftern mit der vollen Härte des Gesetzes. Für die Lebensbedingungen der Bergarbeiter und ihrer Familien fühlt sich die ANC-Regierung offenbar nicht verantwortlich. Präsident Zuma appellierte vielmehr an die Minen, den in der Mining Charter festgehaltenen Verpflichtungen, u.a. zum Umbau der Heime, zügiger nachzukommen. Erfüllten sie die Verpflichtungen bis 2014 nicht, könnten sie ihre Lizenzen verlieren. Der Minensektor brauche noch "viel Diskussion", so Zuma vor dem Gewerkschaftskongress. Von eigenen Anstrengungen der Regierung sprach er nicht.
Im Rahmen der „Transformation“ versucht sie, den Unternehmen die Bearbeitung vieler sozialer Aufgaben zuzuschieben. Lonmin hat durchaus etwas unternommen, doch der Nutzen blieb begrenzt, viele Projekte sind gescheitert. John Capel von der Bench Marks Foundation, die die sozialen Programme seit Jahren kritisch begleitet, hat sie so beschrieben: „top-down, von Experten geplant und den dort lebenden Menschen dann aufgedrückt“. David von Wyk, einer der Forscher der Stiftung, hat noch drastischer darauf hingewiesen, dass die Pläne von Consultants in Sandton (einem reichen Stadtteil von Johannesburg) gemacht werden, die daran Millionen verdienen. Die Bench Marks Foundation sagt, noch an keinem Ort habe sie eine Stimmung verspürt, dass die Minen das Leben der Menschen wirklich verbessert hätten.
Die Unternehmen ihrerseits machen geltend, dass sie nicht nur Löhne und Gehälter, sondern auch Abgaben und Steuern zahlen - Geld, das die Regierung nutzen könnte und sollte, um die Lebensbedingungen der ärmeren Südafrikaner zu verbessern. Auch und gerade dort, wo dieses Geld erwirtschaftet wird.
Doch wie an vielen Orten Südafrikas hapert es auch in der Umgebung der Minen an „service delivery“, an ordentlichen Häusern, Wasser, Abwasser, Strom, Schulen, Gesundheitseinrichtungen. Die informelle Siedlung Nkaneng, in der sich die streikenden Arbeiter versammelten, gehört zum Regierungsbezirk Madibeng, wo die Misswirtschaft im vergangenen Jahr so groß war, dass die Zentralregierung die Aufsicht an sich gezogen hat. Die Nordwest-Provinz, in der Marikana liegt, ist eine der am schlechtesten regierten des Landes. Was als Arbeitskonflikt ausgefochten wurde, war in vieler Hinsicht auch ein Ausbruch an Frustration über die Lebensbedingungen.
Vor diesem Hintergrund waren die Verhandlungen schwierig, war viel Vermittlungsarbeit nötig. Am Ende haben die Kumpel von ihrer Maximalforderung abgelassen und die kräftige Lohnerhöhung bejubelt. Inzwischen sind sie an ihren Arbeitsplatz zurückgekehrt. Keine Gewerkschaft habe jemals solche Erhöhungen erreicht, verkündete ein Sprecher der streikenden Arbeiter. „Violence works“ hat ein anderer dem BBC-Korrespondenten Andrew Harding gesagt. Dass man mit Gewalt etwas erreichen kann, ist eine Botschaft, die den Südafrikanern im Positiven (als Methode) wie im Negativen (als Schrecken) nur allzu vertraut ist. Auch die Arbeiter haben durch Gewalt und Einschüchterung Schrecken verbreitet, Menschen umgebracht.
Jetzt bekommen sie mehr Geld für ihre gefährliche Arbeit. Doch einen sicheren Platz im neuen Südafrika haben sie damit noch lange nicht.