Montag, 10. Dezember 2012

"Keine Gewinner im Farmarbeiter-Streik"

Nach den Minenarbeitern haben in diesen Monaten in Südafrika auch Farmarbeiter in der Kapprovinz gestreikt. Sie forderten ebenfalls eine drastische Erhöhung des Mindestlohns. Die aber kann nach den Gesetzen frühestens im April kommenden Jahres erfolgen. Anfang Dezember wurde nach langen Verhandlungen noch einmal einen Tag gestreikt, seitdem herrscht weitgehend Ruhe. Gelöst wurde keines der Probleme; jetzt sollen für jede Farm gesonderte Lohnverhandlungen folgen. William Dicey, Umweltschützer, Autor und Obstfarmer aus Ceres, findet, dass dieser Streik nur Verlierer hat.

Im Streik der Farmarbeiter gibt es keine Gewinner. Traktorfahrer Michael Daniels starb durch eine Polizeikugel. Saisonarbeiter Bongile Ndleni kam durch die Kugel eines privaten Sicherheitsmitarbeiters ums Leben. Der Farmer Tienie Crous, 81, wäre fast getötet worden, als Streikende ihn bedrängten (seine Hörgerät musste ihm aus der Haut herausgeschnitten werden). Kleinstädte wurden geplündert, Eigentum zerstört. Scheunen und Holzfässer und Traktoren und Weinberge gingen in Flammen auf.
Die Farmer sind nervös und wütend und haben Angst. Manche reden davon, ihre Farm zu verkaufen und auszuwandern. Fest angestellte Farmarbeiter sind ebenso nervös und wütend und haben Angst. Sie können allerdings nicht ihr Bündel schnüren. Sie müssen diesen Sturm abwettern und abwarten, ob sie im April noch einen Job haben werden oder nicht.
Die Streikenden, die ihr Heil im gewalttätigen Protest gesucht haben, sind ebenfalls Verlierer. Sie haben ihren Anteil an Gummikugeln der Polizei abbekommen und ohne Zweifel ein gut Teil Polizeibrutalität. Sie mussten auch mit dem Zorn der Arbeiter leben, die von ihnen so eingeschüchtert worden waren, dass sie zu Hause blieben. Der erste Protesttag mag noch so etwas wie Spaß gemacht haben, aber nach vier Tagen ohne Lohn waren die Leute verzweifelt.
Die Politiker waren klare Verlierer. Helen Zille, Premier der Kap-Provinz, noch die beste unter einem Haufen schlechter - aber nur deshalb, weil sie nicht marktschreierisch aufgesprungen ist. Sie zauderte und ließ Führerstärke vermissen – vermutlich wollte sie sich weder auf die Seite der Farmer noch auf die der Coloured-Arbeiter schlagen, beide traditionel Anhänger der Democratic Alliance. Die Partei-Erklärungen für die Presse konnte man allerdings kaum von denen der Farmer-Verbände wie der Agri SA unterscheiden. Zilles Oppositions-Gegenüber Marius Fransman, Provinz-Chef des ANC, startete ziemlich aggressiv und sagte den Farmern, „Julle gaan kak“ (kak = Scheiße), hielt sich dann aber stärker zurück.
Landwirtschaftsministerin Tina Joemat-Pettersson lieferte eine katastrophale Vorstellung. In einer Rede vor einer großen Gruppe Streikender in De Doorns gratulierte sie ihnen zu ihrem „Sieg“; keiner von ihnen, so sagte sie, werde disziplinär belangt oder angeklagt werden. Schwierig zu sagen, welche dieser beiden Statements bizarrer ist: eine Landwirtschaftsministerin, die Farmarbeitern zu einem illegalen Streik beglückwünscht, bei dem Weinberge niedergebrannt wurden, oder eine Ministerin ohne juristische Zuständigkeit, die Leuten Immunität vor gerichtlicher Verfolgung verspricht, die an einer Orgie von kriminellen Handlungen teilgenommen haben, inklusive der Verbarrikadierung einer Nationalstraße und dem Steinewerfen auf vorbeifahrende Fahrzeuge. Als Sahnehäubchen ihrer Vorstellung kündigte die Ministerin an, dass die Mindestlöhne in der Landwirtschaft binnen zweier Wochen überprüft würden – was schon von der Verfassung her unmöglich ist. (…)
Aber vielleicht bin ich zu hart gegenüber Joemat-Pettersson. Sie ist so ineffizient und wankelmütig, dass es schwierig ist, ihr Vorwürfe zu machen. So etwas von bösartigem Handeln überfordert möglicherweise schon ihre intellektuellen Fähigkeiten. Der Schurke in dem Stück dagegen ist die Verkörperung böswilliger Absicht: Tony Ehrenreich, Cosatus rasiermesser-scharfer Provinzsekretär.
Aber bevor wir Ehrenreichs Rolle beleuchten, muss ich noch einiges zu den Ursachen des Streiks sagen. Viele Aspekte des Streiks sind komplexer, als sie auf den ersten Blick erscheinen, und sie sind von Region zu Region verschieden. Selbst zum Beispiel ein so einfaches Wort wie „Streikende“ beschreibt nicht immer dasselbe. „Farmarbeiter“ und „Streikende“ und „Demonstranten“ sind genau umschriebene Gruppen von Menschen. In De Doorns überlappen sie sich, nicht so stark aber in Ceres.
Als der Streik Anfang November in De Doorns begann, waren die Demonstranten – das sind die Leute, die Autoreifen verbrannten und Fahrzeuge mit Steinen bewarfen – Farmarbeiter. Es gibt unterschiedliche Angaben darüber, ob diese Demonstranten Saisonarbeiter aus Lesotho waren, deren Arbeitserlaubnis nicht erneuert worden war, oder ob da mehrere Gruppen zusammenkamen. Wie auch immer, es waren verärgerte Saisonarbeiter, die die fest angestellten Farmarbeiter im Tal einschüchterten und zum Mitmachen aufforderten. Ein Freund von mir betreibt eine Farm in De Doorns. Die Arbeiter auf seiner Farm erhielten drohende SMS: „Wir werden Dich holen“, hieß es da in Afrikaans, „wir wissen, auf welcher Weinfarm Du bist“. Mein Freund hat den ganzen Tag eingeschüchterte Arbeiter von einer Ecke seiner Farm in die andere gefahren. Dann hat er ihnen gesagt, sie sollten zu Hause bleiben.
Die Saisonarbeiter in De Doorns hatten vermutlich vernünftige Gründe zu streiken. In den vergangenen ein, zwei Jahrzehnten sind die Gewinnmargen der Farmer im Hex River-Tal bei Tafeltrauben dramatisch geschrumpft (30 Prozent der Farmen im Tal haben in den vergangenen fünf Jahren den Besitzer gewechselt). Viele Farmer haben deshalb verstärkt Saisonarbeiter beschäftigt und ihnen nur den Mindestlohn gezahlt. Es ist schwierig, das gutzuheißen – 69 Rand ist ein erbärmlicher Lohn -, aber ziemlich leicht nachzuvollziehen.
In Wolseley und Ceres (zwei Regionen, über die ich mit einiger Autorität reden kann: Mein Bruder betreibt eine Farm in Wolseley, ich eine in Ceres) ist die Situation ganz anders. Farmer bauen Äpfel an, Birnen und Pflaumen. Trotz einiger Probleme sind die Gewinnspannen hier höher. Das spiegelt sich in den Löhnen wider. Die Farmen um mich herum zahlen ihren am schlechtesten bezahlten Arbeitern alle zwischen 85 Rand und 90 Rand pro Tag. Zusätzlich erhalten Arbeiter einen Zuschlag pro abgeernteten Baum oder pro gepflückten Sack. Das macht übers Jahr gerechnet rund 25 Rand pro Tag. Dazu gibt es noch einen jährlichen Bonus, kostenlosen Transport, einen Zuschuss für Arztbesuche, den kostenlosen Kindergarten und die Zahlung der Schulgebühren. Arbeiter, die auf der Farm leben, zahlen keine Miete, und der Strom wird bezuschusst. Wenn man das alles einberechnet, erhält ein auf der Farm lebender Arbeiter im Durchschnitt 140 Rand am Tag und der nicht auf der Farm lebende Arbeiter 120 Rand. Diejenigen, die sich durch besondere Leistungen auszeichnen, verdienen deutlich mehr, ebenso wie die ausgebildeten Arbeiter wie die Teamleiter, die Menschen in der Verwaltung und die Traktorfahrer.
Vergleichbare Löhne gibt es auf vielen Farmen in Ceres und Wolseley und auch im weiteren Boland. Das ist nicht furchtbar viel Geld, aber da die Arbeitskosten 40 Prozent der Kosten ausmachen, ist das nun mal soviel, wie eine gut geführte Obstfarm vernünftigerweise zahlen kann. Im nationalen Vergleich verdienen 60 Prozent aller Haushalte weniger als das, und daher verleitet dieser Lohn selbst nicht gerade zu gewalttätigem Protest. Aber jetzt kommt eben die Politik ins Spiel.
So abgestimmt und effizient, wie der Streik sich an einem einzigen Tag von De Doorns in 15 andere Städte im Boland ausgebreitet hat, spricht alles für sorgfältige Planung und ausgeklügelte Mobilisierung von Menschen und Ressourcen. Es gibt nur wenig Zweifel, dass der ANC in der Kapprovinz und sein Allianzpartner Cosatu hinter dieser Mobilisierung stecken. In Villersdorp wurde ein Flugblatt mit ANC-Kopf verteilt, und im ganzen Boland gab es Berichte über Einschüchterungen durch Cosatu-Mitglieder (obwohl es im Boland kaum gewerkschaftlich organisierte Farmen gibt). Das würde die Fremden erklären, die nachts am Bahnhof von Wolseley ankamen, und die Busse in Nduli, dem Township außerhalb von Ceres. Ich bin kein Anhänger der reaktionären Politik der DA, aber Pieter van Dalen, ihr landwirtschaftlicher Sprecher, ist der Wahrheit vermutlich ziemlich nahe gekommen, als er den Streik als „letzten Bestandteil in der Kampagne des ANC, die Kapprovinz unregierbar zu machen“, bezeichnete.
Nicht ein einziger Arbeiter auf meiner Farm wollte streiken. Die in Nduli wohnen, erhielten die Botschaft, dass ihre Familien und ihre Häuser bedroht seien, falls sie zur Arbeit gingen. Die Arbeiter auf der Farm wurden in Telefonanrufen und SMS bedroht. Ob diese Drohungen wirklich wahrgemacht worden wären, ist nicht von Belang. Die Arbeiter waren eingeschüchtert und kehrten in ihre Häuser zurück.
Tony Ehrenreich ist im vergangenen Jahr 50 geworden. Ein gefährliches Alter für einen Mann. Ein Alter, in dem er versucht sein könnte, auf sein Leben zurückzublicken und zu fragen, was er bislang erreicht hat, und was noch kommen könnte. Ehrenreich war 2011 Bürgermeister-Kandidat für Kapstadt und von Patricia de Lille vernichtend geschlagen worden. Er ist ganz klar ein ehrgeiziger Mann und mit seinem Job als Provinzsekretär von Cosatu nicht zufrieden, einer Organisation, der er vor mehr als 20 Jahren beigetreten ist.
Ehrenreichs Rolle im Streik kann man nur als schändlich bezeichnen. Anzukündigen, dass ‚Marikana zu den Farmen im Westkap komme’, ist nicht nur extrem unverantwortlich, es ist auch ungeniert opportunistisch. Als Ehrenreich Marikana zum zweiten mal zitierte – auf einem Plakat mit seinem Foto über dem fröhlichen Ausruf „FÜHLE ES!! Marikanas Western Cape ist hier!“ -, reichte die Demokratische Allianz eine Klage wegen Aufrufs zur Gewalt ein. Von Ehrenreich ist auch der Ausspruch überliefert: „Der Streik … könnte die Wiederholung des niedrigschwelligen Bürgerkriegs bedeuten, dessen Zeuge wir alle vor wenigen Wochen auf den Farmen waren.“
Die einzige Schlussfolgerung, die man aus diesen aufwieglerischen Äußerungen ziehen kann, ist die, dass Ehrenreich die Kapprovinz brennen sehen will. Warum? Vermutlich will er seinen politischen Bossen gefallen, und zweifellos will er das Profil schärfen von Tony Ehrenreich Inc., Bürgermeisterkandidat und Retter der Armen. Dabei ist er alles andere als ein Retter der Armen. Eine der traurigen Ironien des Streiks: Die Mehrheit der Demonstranten – jedenfalls in Ceres und Wolseley – waren entweder arbeitslos oder Saisonarbeiter. Hätten sie ihr Ziel, den Mindestlohn auf 150 Rand pro Tag zu steigern, erreicht, hätten sie sich selbst für lange Zeit von einem Arbeitsplatz ausgeschlossen. Ehrenreichs politische Schachfiguren sind genau die Leute, die bei einem erfolgreichen Streik am meisten verloren hätten.
Ehrenreich ist – obwohl es genau andersherum aussieht – auch ein Verlierer des Streiks. Er ist das Opfer von so vielen Hass-Mails, wie ich es in der Blogosphäre noch nie erlebt habe; er hat bei den Arbeitern Hoffnungen geweckt, nur um sie zu enttäuschen, und wenn man Cosatus Verrenkungen in der zweiten Runde des Streiks anschaut, ist er von den Granden des ANC kielgeholt worden. Das Marikana im Nordwesten hat der Wirtschaft solch einen schädlichen Schlag versetzt, dass die Regierung wohl wenig Lust auf eine Wiederholung im Westkap hatte.
Trotz der Tatsache, dass es keine Gewinner gab, war der Streik nicht vollkommen schlecht. Das Aufhetzen und die Einschüchterungen und die Gewalt und die Zerstörungen waren natürlich schlecht. Das zynische Ausnutzen von Tausenden armer Menschen, nur um die Ambitionen einer Handvoll Politiker zu befördern, war gleichfalls schlecht. Aber das Prinzip eines breit angelegten Streiks in der Landwirtschaft hat seine Verdienste. Allzu lange waren die Arbeitsbeziehungen sozusagen der Elefant in der Ecke des Obstgartens. Durch den Streik war es möglich zu reden, etwas Dampf abzulassen und – hoffentlich – etwa zu tun. Mich selbst hat lange umgetrieben, dass die Arbeiter, die auf meiner Farm leben, kostenlos dort wohnen können, während für die außerhalb der Farm das nicht gilt. Durch den Streik suche ich jetzt nach Wegen, wie das Leben außerhalb der Farm unterstützt werden kann. Kommenden April wird der Mindestlohn für Farmarbeiter hoffentlich deutlich erhöht. Das ist sicherlich nicht die Lösung aller ländlichen Übel, aber ausbeuterische Farmer sollten die Hitze spüren. Die meisten von ihnen könnten es sich leisten, mehr zu zahlen. Und die es nicht können, müssten der Tatsache ins Gesicht sehen, dass sie ihre fehlende Wirtschaftlichkeit mit billiger Arbeitskraft vertuschen.
Wenn man die Frage außer acht lässt, wer das Streichholz angezündet hat, bleibt eine Tatsache, dass der Streik sich schnell wie ein Waldbrand ausgebreitet hat. In ländlichen Gebieten herrscht tiefe Unzufriedenheit, und Farmer täten gut daran, darauf zu achten. Die Regierung aber sollte das auch tun. Die Unzufriedenheit – so argumentiere ich – hat mehr zu tun mit Armut, Arbeitslosigkeit und dem Verlust der Aussicht auf ein besseres Leben als mit den Arbeitsbeziehungen auf den Farmen. Dieser Streik war nicht nur ein Streik, das war auch soziale Unruhe.
„Wenn die Ministerin Joemat-Pettersson und Herr Ehrenreich den Farmarbeitern wirklich Gutes tun wollen“, schreibt der Wirtschaftswissenschaftler Johan Fourie in seinem Blog, „sollten sie sich lieber um ein anderes Erbe der Apartheid sorgen: die miserable Arbeit der Schulen auf dem Lande, vor allem in den Provinzen, aus denen viele der Arbeitsmigranten kommen – und nicht so sehr um die Regierungsarbeit, den Mindestlohn zu ändern.“ Unglücklicherweise jedoch ist – wie Fourie auch ausführt – die Änderung des Mindestlohns viel einfacher, und es verkauft sich auch viel besser.

William Dicey
6. Dezember 2012


Quelle: www.politicsweb.co.za

Freitag, 7. Dezember 2012

Jeremy Gauntlett

Er ist einer der bekanntesten Juristen Südafrikas: Jeremy Gauntlett. Es gebe drei Typen von Anwälten, schreibt eine junge Jurastudentin aus Stellenbosch in ihrem Blog: gute Anwälte, für die komplizierteren Fälle großartige Anwälte - und für Fälle, wo alles verloren scheint, solche wie Jeremy Gauntlett.
Gauntlett macht in Südafrika Schlagzeilen: Zum vierten Mal ist er bei der Berufung profilierter Juristen auf hohe Richterstellen übergangen worden. „Soll das bedeuten, dass unser Land keinen Platz für Landeskinder hat, die weiß, klug und nicht zu Kompromissen bereit sind, wenn es um Prinzipien, Effizienz, Werte und Qualität geht?“, fragt in einem Kommentar der justizpolitische Sprecher der Inkatha Freedom Party im Parlament, Mario Oriani-Ambrosini, und sieht „Symptome einer nationalen Tragödie“.
Hohe Richter werden in Südafrika von der unabhängigen Judicial Service Commission (JSC) vorgeschlagen, die Kandidaten öffentlich anhört; offiziell ernannt werden sie dann vom Präsidenten. Bei der Suche nach Richtern für das Verfassungsgericht war Gauntlett zweimal übergangen worden, und in diesem Herbst blieb er ebenfalls zum zweiten Mal für einen Richterposten beim Western Cape High Court unberücksichtigt.
Begründet wurde dies nach Aussagen von Richtern unter Hinweis auf Hautfarbe und Temperament: Die Dominanz weißer Männer unter den Richtern dürfe sich nicht fortsetzen; auch war einigen JSC-Mitgliedern der Sarkasmus von Gauntlett nicht richterlich genug. Juristen haben daraufhin nachgezählt: Von 29 ständigen Richtern in der Kap-Provinz sind heute nur noch neun weiß und männlich; eine Berufung Gauntletts hätte an diesem Verhältnis also nur wenig verändert.
Ende September lieferte der Jurist einen weiteren Beleg für seine spitze Feder. Einen Monat zuvor hatten die Staatschefs des südlichen Afrika, die in der Southern African Development Community (SADC) zusammenarbeiten, auf einer Sitzung in Mosambik beschlossen, das SADC-Tribunal in Windhuk, den Gerichtshof für das südliche Afrika, entscheidend zu beschneiden: In Menschenrechtsfragen sollte das Tribunal nicht mehr urteilen dürfen; das individuelle Klagerecht für jede Bürgerin und jeden Bürger in dieser Sache wurde abgeschafft. Gauntlett fragte in einem Vortrag provokativ: „Why was Southern Africa’s ‘House of Justice’ pulled down?“ und rief die internationale Gemeinschaft zum Widerstand auf: “Das Tribunal wird überwiegend von Hilfsgeldern unterstützt, vor allem von Staaten der EU. Es gibt keinen Grund, damit fortzufahren (…). Ich schlage vor, dass diese Konferenz fordert, jede Finanzhilfe für das Tribunal und andere SADC-Organe einzustellen, bis individuelle Klagen wieder möglich sind.“
Das SADC-Tribunal kennt Gauntlett gut: Er war einer der Anwälte von Michael Campbell, dem Farmer aus Simbabwe, der Präsident Mugabe vor dem Tribunal verklagte – und gewann (vgl. unsere Blog-Einträge vom 1. August 2010 und 21. April 2011).
Mangosuthu Buthelezi, der langjährige Vorsitzende der Zulu-Partei Inkatha Freedom Party (IFP), kennt Gauntlett seit 40 Jahren. In den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, mitten in der Apartheid-Ära, war Gauntlett Vorsitzender des Studentenrates der Universität Stellenbosch und hatte Buthelezi eingeladen, vor den Studenten dieser burischen Kaderschmiede zu sprechen. Premierminister John Vorster, damals auch Kanzler der Buren-Universität, intervenierte persönlich: Man möge Buthelezi diese prestigeträchtige Plattform nicht geben. Gauntlett aber sagte den Auftritt nicht ab. „Solch Charakter und Unabhängigkeit brauchen wir für einen Richter“, meint Oriani-Ambrosini.
Anfang nächsten Jahres wird wieder ein Richterposten frei in Südafrika: im Constitutional Court, dem Verfassungsgericht. Ende November war die letzte Anhörung der JSC dafür. IFP-Präsident Mangosuthu Buthelezi hat Jeremy Gauntlett für den Posten nominiert. Unterstützt wird die Nominierung von einem bekannten Menschenrechtsanwalt, Sir Sidney Kentridge, und der früheren Anti-Apartheid-Kämpferin und heutigen Geschäftsfrau Mamphele Ramphele.

Dienstag, 30. Oktober 2012

"Don't stress about us in SA"

Südafrikaner sind unerschütter-liche Optimisten, und das ist nicht der unwichtigste Grund, dieses Land zu lieben. "Sunday Times" und "Business Day" veröffentlichten jetzt den Brief eines südafrikanischen Unternehmers an einen besorgten Freund im Ausland, der das Land am Kap am Abgrund sieht. Gründe dafür gibt es ja schon - aber Gegenbeispiele eben auch.


Hi Jeff
   HOPE all is well with you guys. I will drop you a line later with the family news but I would first like to respond to the e-mail you sent me attaching an article by Clem Sunter, which seemed to concern you about us here in South Africa.
   You also sent me an article last year by Moeletsi Mbeki warning about the danger of an "Arab Spring" in South Africa. I often get e-mails like this from "concerned friends" worried about us, which is sweet of you guys. Of course we are concerned. Some worrying things have happened but we have been through and survived much worse in much more volatile environments. Including the Boer War, two World Wars, apartheid, the financial crisis without a bank bailout, the Rindapest, Ge Korsten and Die Antwoord!
   However, for as long as I can remember there have always been people who think SA has five years left before we go over the cliff. No change from when I was at school in the sixties. The five years went down to a few months at times in the eighties!
   But it seems the people who are the most worried live far from the cliff in places like Toronto, Auckland, London and other wet and cold places. Also from St Ives and Rose Bay in Sydney, Dallas and Europe and other "safe places" that are in the grip of the global financial crisis, which by the way is quite scary. Many of them have survived decades of rolling "five years left" since they left South Africa. So maybe they will be right one day!
   My message is, please don't stress about us in South Africa. We are fine. We are cool. We know we live in the most beautiful country in the world with warm and vibrant people. There are more people here with smiles on their faces than in any country I have ever been to.
   Young people are returning in droves with skills and a positive attitude. Collectively we bumble along and stuff many things up while letting off a hell of a lot of steam (have you heard of a chap called Julius Malema?). Yet in between South Africans do some amazing things like win a few gold medals, big golf tournaments and cricket and rugby matches.
   The South Africans I know get off their butts and do things to build our country rather than whinge from a position of comfort. We actively participate in projects that improve the lot of underprivileged communities. I would not trade for anything last Saturday in a hall full of 1500 African teachers singing at the top of their voices and demonstrating their commitment to improving education in their communities.
   We have our challenges and surprises. The standard deviation of our emotions are set at MAX. You are never just a "little bit happy" or a "little bit sad". At one moment you can be "off the scale" pissed off or frustrated or sad or worried or fearful or depressed. The next moment you are "off the scale" exhilarated, or enchanted, or inspired, or humbled by a kind deed, or surprised by something beautiful. It makes life interesting and worth living.
   We also have passionate debates about the future of SA. Helped of course by red wine which you must taste again because it is getting better every year! Clem makes a great contribution to the debate as others like Moeletsi Mbeki do. Russell Loubser, the former head of the JSE, made a feisty speech the other day that has whipped up emotions. Up to MAX on the emotions meter of the ANC Youth League whose campaign for nationalisation of the mines was attributed to people who have IQs equal to room temperature.
   South African politics has always been volatile, we have opinions that could not be further apart and it evokes emotion on a massive scale. Interesting and stimulating for those that want to take it seriously but noise in the system to me. Fortunately we are rid of apartheid that would have definitely pushed us over the cliff. These are the birth pangs of a new and unpredictable democracy. So buckle up and enjoy the ride and contribute! That is the message I convey to South Africans.
   Sad as it is, it is true that the South African diaspora has a largely negative influence on confidence in South Africa. It would not be a problem if their fretting about how long we will last before we go over the cliff was merely a reflection of their concern for us, their friends and family.
   The problem is that it does impact foreign investment, which is important for economic growth. A person who is thinking of coming to visit or investing is often put off by listening wide-eyed to the stories of people who have gapped it.
   As you know I host many foreign visitors and I have never, EVER, met anyone who has visited for the first time without being blown away by the beauty of the country and the warmth of the people. It is not for nothing that South Africa has the highest ratio of repeat visitors of all long-haul destinations.
   So, Jeff, how can I help you stop stressing out about us? Maybe best is that you get exposed to some articles and websites that give a more balanced and uplifting perspective of South Africa. So please don't worry and if you get a chance, put in a good word for us.
   All the best
   PAUL HARRIS
* This article was first published in Sunday Times: Business Times




Mittwoch, 17. Oktober 2012

"Avon Ladies": Lippenstift schafft Lebensmut

„Lippenstift könnte die neueste Waffe im Kampf gegen die Armut sein“, schreibt Kate Abbott leicht spöttisch in der Zeitung „Business Week“, und tatsächlich zeigt eine dreijährige Studie der Universität Oxford, dass in Südafrika viele Frauen ihr Leben durch den Verkauf kosmetischer Produkte verbessert haben. Die „Avon Ladies“ sind überraschend erfolgreich.
   Seinen Ursprung hatte Avon in der Ersten Welt. 1886 schwenkte ein Buchhändler, der seine Literatur an der Haustür feilbot, von Büchern auf Parfüm um. Heute handelt Avon in mehr als 100 Ländern und setzte 2011 weltweit 11 Milliarden US-$ um. Seit 1996, nach Ende der Apartheid, ist die Firma auch in Südafrika tätig – und unter Schwarzen sehr beliebt. Für 2011 gibt die Firma ihr Umsatzplus weltweit mit 1 % an; in Südafrika waren es 29 %.
   Projektleiterin Linda Scott war selbst erstaunt, wie positiv die Frauen das Haustür-Geschäft beurteilen. Sie hörte von vielen, dass ihr Leben durch den Kosmetik-Verkauf umgekrempelt worden sei. Die Wissenschaftlerinnen sprachen bald von der „Lippenstift-Evangelisation“.
   Sie befragten 300 „Avon Ladies“ und fanden heraus, dass sie mit dem Kosmetik-Verkauf im Durchschnitt 900 Rand im Monat verdienten. Frauen, die 16 Monate und länger Avon-Produkte verkauften, erwirtschafteten mit mehr als 1.400 Rand sogar genug, um das Nötigste für sich und ihre Kinder zu kaufen. Für viele ist der Gewinn aus dem Avon-Verkauf auch nicht das einzige Einkommen, da es sich gut als Nebengeschäft eignet.
   Nelli Siwe hat ihren kleinen Verkaufsstand an einer belebten Kreuzung in Soweto aufgebaut. Eigentlich studiert Nelli an der Uni in Johannesburg; mit Avon finanziert sie ihre Studiengebühren. „Als Frau sollte ich nicht immer andere um Geld fragen“, meint sie.
   Drei von vier Avon-Frauen erklärten, sie stünden durch ihren Job finanziell auf eigenen Füssen. Mindestens so wichtig aber wie das Geld sind andere Erfolge: Als Kleinunternehmerin haben die Frauen nicht nur ein eigenes Einkommen, fast alle sagen, sie seien selbstbewusster geworden.
   Da Avon keinerlei formale Qualifikationen voraussetzt, bieten sich Chancen auch für Frauen ohne formale Qualifikationen. „Avon Ladies“ erlernen Fähigkeiten, die sie fit auch für andere Berufe machen, sie werden geschult, bekommen eine „Mentorin“ und werden so in ein förderndes und Feedback gebendes Netzwerk aufgenommen. Sie fühlen sich aufgewertet, werden von ihren Männern anerkannt – wenn die überhaupt noch da sind. Mehr als die Hälfte der „Avon Ladies“, die von der Oxford-Studie befragt wurden, hatten überhaupt keinen männlichen Partner und waren in der Familie die Hauptverdiener.
   Alice Mthini arbeitete lange als Hausmädchen, bis sie 2009 die Gebühr von 75 Rand zahlte und eine „Avon Lady“ wurde. Das änderte alles: Alice entpuppte sich als Verkaufstalent und kann heute ihre Kinder auf eine private Schule schicken, hat ein Auto gekauft und arbeitet mit dem Laptop.
   Bei aller Begeisterung für das Unternehmertum bekommen allerdings auch „Avon Ladies“ Südafrikas Probleme zu spüren. „Ich hatte keine Vorstellung davon, wie schwierig ein Haustür-Geschäft in einem Land ist, in dem aus Angst niemand freiwillig die Tür aufmacht“, gibt ein Avon-Direktor zu, der von Großbritannien nach Südafrika gekommen ist. Vor allem die Johannesburger Avon-Mitarbeiterinnen kennen viele Geschichten von Belästigung, Raub, Entführung und Vergewaltigung; auf ihrem Weg zu ihren Kunden sind sie leichte Ziele.
   Ein Lippenstift kann eben doch nicht alles verändern.

Sonntag, 7. Oktober 2012

Cyril Ramaphosa: Einst Gewerkschaftsboss, jetzt Teilhaber


David von Wyk, der für die Bench Marks Foundation einen Bericht über die Arbeits- und Lebensbedingungen in den Minen um Rustenburg erarbeitet hat, ist nah dran an den Leuten und nimmt für sie Partei; sich selbst nennt er einen alten Kommunisten. Was er um die Geschehnisse in und um die Minen berichtet, bereitet ihm besonders dann Verdruss, wenn das neue Südafrika nicht besser oder gar schlechter ist als der alte Apartheidstaat. Zeitarbeitsfirmen etwa seien unter der Apartheid verboten gewesen, jetzt aber erlaubt – sie hält van Wyk für eines der Erzübel im Geschäft mit den Rohstoffen Südafrikas.
Besonders übel sei in dieser Hinsicht Aquarius Platinum Limited, ein Minen-unternehmen, das überwiegend von Zeitarbeitsfirmen vermittelte Arbeiter einsetzt. Auch dieser Bergbaukonzern hat verschiedene Black Empowerment (BEE)-Partner. Die drei wichtigsten heißen Savannah, Chuma und Malibongwe. In allen drei Beteiligungsgesellschaften spielen prominente ANC-Mitglieder wichtige Rollen. Bei Savannah war das Zwelakhe Sisulu, ein Sohn von Walter Sisulu, Nelson Mandelas altem Kampfgefährten. (zwelakhe Sisulu ist Anfang Oktober 2012 verstorben.) Mandelas Tochter, Prinzessin Zenani Mandela-Dlamini, ist einer der beiden Direktorinnen von Chuma, und die Malibongwe-Agentur ist ein Projekt der Frauenliga des ANC.
An Anglo-Platinum ist Valli Moosa beteiligt, früherer Freiheitskämpfer und Minister unter Mandela und Mbeki. Bei Lonmin heisst der BEE-Partner Cyril Ramaphosa (AP-Foto oben). Seine Investment-Firma Shanduka hält neun Prozent der Anteile an Lonmin, seit 2010 ist er auch einer der Direktoren.
Besonders pikant: Der Jurist Ramaphosa hat einst die National Union of Mineworkers (NUM) aufgebaut, die größte und mächtigste Gewerkschaft des Landes. Später war er einer der Verhandlungsführer des ANC bei den CODESA-Gesprächen über die Zukunft Südafrikas als Demokratie, dann Vorsitzender der Verfassungskommission. Als klar war, dass Thabo Mbeki und nicht er Nachfolger von Nelson Mandela werden würde, hat sich Ramaphosa aus der Politik zurückgezogen. Heute ist er einer der reichsten Männer Südafrikas.
Immer wieder wurde aber sein Name genannt, wenn es darum ging, eine respektable Person zu finden, die den ANC aus der Misere führen und das Land regieren könnte. Im April 2012 diskutierte die Wochenzeitung „City Press“ kontrovers darüber, ob ein so reicher Mann Präsident des Landes sein könne. Ferial Haffajee, die Chefredakteurin, meinte dabei, dass jemand, der sein eigenes Geld habe, sich auf das Regieren konzentrieren könne und nicht damit beschäftigt sei, wie er nach Ende der Amtszeit weiter so komfortabel leben könne.
Shanduka, Ramaphosas Firma, stellte für die Beerdigung der 34 von der Polizei erschossenen Arbeiter der Lonmin-Mine im August zwei Millionen Rand (200.000 Euro) zur Verfügung. Zum Lohnkonflikt selbst aber hat der BEE-Teilhaber lange geschwiegen. Ferial Haffajee fragte schließlich am 27. August in ihrer Zeitung, wofür der sogar als eine Art Messias für die Misere des Landes gehandelte Ramaphosa eigentlich stehe. Durch das Teleskop seines Engagements bei Lonmin betrachtet, müsse man feststellen, dass er es nicht zugunsten besserer Arbeitsbedingungen genutzt habe.
Am 20. September wurde Ramaphosa schließlich auf SAFm Live interviewt. Der einst so formidable Verhandlungsführer hinterließ dabei einen ziemlich kläglichen Eindruck. Sein Gespür für die Nöte der Menschen und die Stimmung im Land scheint ihn verlassen zu haben.
Immerhin entschuldigte sich Ramaphosa für ein Verhalten, das ihm schon früher angekreidet worden war: „in einem Meer von Armut“ 19,5 Millionen Rand für eine Büffelkuh und ihr Kalb geboten zu haben. Da seine Hand überhaupt gehoben zu haben, sei ein Fehler gewesen, dafür sei er von guten comrades gescholten worden, jetzt müsse er mit dem Schaden leben.
Einige der Hörer der Sendung hielten Ramaphosa vor, er habe nicht erfüllt, was mit dem BEE-Engagement eigentlich bewirkt werden sollte: „Katalysator des Wandels“ zu sein. David van Wyk hat sich mit seinen Erfahrungen längst davon verabschiedet, dass die BEE-Investoren etwas bewirken wollten: Sie wollten nur besitzen.
Dass die neuen Mitbesitzer der Minen aus den politisch bedeutenden Familien des Landes kommen, hat für van Wyk besonders negative Konsequenzen. „Sie haben vom Staat Besitz ergriffen, von der Regierungspartei sowieso - und sie tun das auch bei den Minen.“ Für David Van Wyk ist das „politische Umweltverschmutzung“. Durch die prominenten Damen und Herren in ihren Aufsichtsräten als Aktionäre und als Partner bei BEE-Abschlüssen fühlten sich die Minen sicher, und beide, Regierung und Unternehmen, ünternähmen wenig oder nichts, um die vielen Probleme anzugehen.

ANC: Weniger Ansehen, mehr Mitglieder


Afrikas älteste Befreiungs-bewegung, gerade 100 Jahre alt geworden, wächst und wächst und wächst. Eine Million Mitglieder wollte der seit 1994 regierende African National Congress (ANC) zum großen Geburtstagsfest am 8. Januar 2012 haben, und das hat er auch geschafft. Zehn Jahre zuvor waren es erst 416.000 gewesen, 2008 zählte man 621.000 Parteimitglieder.
Und die Partei legt weiter zu. Nach eigenen Angaben hat sie nun 1,2 Millionen Mitglieder „in good standing“. „In good standing“ ist, wer seinen Mitgliedsbeitrag von 12 Rand im Jahr (umgerechnet etwa 1,20 Euro) bezahlt hat.
Dieser Mitgliederzuwachs ist umso erstaunlicher, als die Partei in den vergangenen Jahren an Ansehen verloren hat. Fast täglich kann man in Südafrika lesen und hören, dass der ANC seinen moralischen Kompass verloren hat und von Richtungskämpfen zerrissen wird. Dass es dabei um Posten und lukrative Geschäfte geht – daraus macht selbst der Generalsekretär des ANC kein Hehl.
Dass die Südafrikaner insgesamt unzufrieden sind mit ihrer dominanten Regierungspartei (so nennen das die Politologen), zeigt sich an vielen Stellen: in Anrufen bei den vielen Radiosendungen mit Hörerbeteiligung, in Kommentaren im Internet. In den townships kommt es immer häufiger zu „service delivery“-Protesten, bei denen sich die angestaute Wut über Korruption und fehlende öffentliche Dienstleistungen entlädt. Und obwohl das Wahlrecht so hart erkämpft wurde, bleiben am Wahltag immer mehr Menschen zuhause oder wählen (wie die Minderheiten der Weißen und Coloureds) die Oppositionspartei.
Dennoch gewinnt der ANC weiter die Wahlen: Die meisten Südafrikaner können sich schlicht nicht vorstellen, die Opposition zu wählen, betrachten es gar als Verrat, auch wenn die nach den meisten rankings in der Kapprovinz eindeutig besser regiert. Die Loyalität zum ANC ist den Verletzungen der Apartheidzeit geschuldet und beinhaltet die Hoffnung auf ein besseres Leben, heute bei manchen auch den Anspruch auf einen großen Teil vom Kuchen. 
Während es früher riskant war, sich zum ANC zu bekennen, und materiell nichts zu gewinnen war (das streicht der Jubiläumsslogan „100 years of selfless struggle“ heraus), lassen sich heute aus einer Parteimitgliedschaft ohne großes Risiko materielle Vorteile ziehen. Wer „Kader“ ist, kann einen Posten bekommen oder gute Geschäfte machen. Für arbeitslose junge Menschen ist ein Parteieintritt manchmal der einzige Weg, es zu Geld und Macht zu bringen. Darüber wird in Südafrika offen diskutiert.
Der ANC hat bei allen Enttäuschungen noch einen Platz im Herzen vieler Südafrikaner, sie fliegen ihm aber nicht mehr zu. So wie manches Mitglied seinen Nutzen kalkuliert, organisiert der ANC inzwischen knallhart den Machterhalt. Dazu gehört auch eine aggressive Mitgliederwerbung.
Über die Ortsvereine (branches) des ANC ist relativ wenig bekannt, aus einzelnen Beobachtungen lässt sich aber schließen, dass das Parteileben nicht besonders rege ist. Offenbar gibt es auch im ANC viele Karteileichen. In einem Kommentar für "Business Day" hat der Journalist Sam Mokeli den inneren Zustand des quantitativ erstarkten ANC so beschrieben: "Die Organisation feiert ihr Wachstum auf die (dubiose) Zahl von 1,2 Millionen Mitgliedern. Viele von ihnen sind noch nie bei einem Ortsvereinstreffen gewesen. Die Mitgliedschaft der Partei besteht ganz überwiegend aus der armen Unterschicht, dazu den Superreichen an der Spitze - und einer großen leeren Blase in der Mitte."
Mit der Zahl der Parteimitglieder wird ganz offen Politik gemacht. Als der ANC vor zwei Wochen bekannt gab, wie viele Mitglieder er in den einzelnen Provinzen des Landes hat, staunte die Öffentlichkeit nicht schlecht. In KwaZulu-Natal, der Heimat von Präsident Zuma, ist die Zahl der Mitglieder seit Januar von 244.000 auf mehr als 331.000 gestiegen, während sie im Eastern Cape, dem alten Stammland des ANC, von 225.000 auf 185.000 gefallen ist. Zur Erklärung verweist Sihle Zikalala, der KZN-Provinzsekretär, auf die eigenen Rekrutierungsanstrengungen, insbesondere die „harte Arbeit“ der Volunteer Core Movements.
Das Ziel dieser offenbar systematischen Anstrengungen ist offensichtlich: die Wiederwahl Jacob Zumas beim Parteitag im Dezember. Denn die Provinz, die mehr Mitglieder hat, kann auch mehr Parteitagsdelegierte stellen. Da das auch Zumas Gegner wissen, kam es nach Bekanntgabe der Mitgliederzahlen im Exekutivkomitee des ANC zu massiven Auseinandersetzungen. Doch auch nach dem erzielten Kompromiß ist klar, dass KwaZuluNatal allein 974 der 4.500 Delegierten in Mangaung stellen wird. Schon länger ist von der Zumafication des ANC die Rede, und seit der Schlüssel für die Parteitagspräsenz bekannt gegeben wurde, gehen viele Kommentatoren davon aus, dass Zumas Chancen auf eine weitere Amtszeit deutlich gestiegen sind: „Get used to it, Zuma will get a second term“.
In seinem Heimatort Nkandla lässt sich der Präsident schon einmal die private Residenz für 203 Millionen Rand (20,3 Millionen Euro) ausbauen: auf Kosten des Steuerzahlers. Die Kosten enthüllte die Sonntagszeitung „City Press“. Thulas Nxesi, der zuständige Minister, hat das einschlägige Handbuch der Regierung (geheim, aber im Internet einzusehen), das für die Sicherung der privaten Residenz eines Amtsinhabers lediglich 100.000 Rand vorsieht, sehr eigenwillig interpretiert und dann zur Verteidigung der exorbitanten Ausgabe zusätzlich auf ein altes Gesetz aus der Apartheidzeit rekurriert. Zuma kann sich auf seine Leute verlassen.
Dass Patronage und nicht Prinzipien die südafrikanische Politik bestimmen, zeigt sich auch darin, dass sich die ANC Women’s League für eine zweite Amtszeit des Traditionalisten Jacob Zuma ausgesprochen hat. Wenn man Frauen als gleichberechtigte Südafrikaner betrachtet, ist mit Zuma eigentlich kein Staat zu machen. 

Montag, 24. September 2012

Marikana - nur vordergründig ein Lohnkonflikt


Zuerst sah es ganz nach einem klassischen Fall von Ausbeutung aus: Afrikaner schuften unter Tage, riskieren ihr Leben und bekommen dafür dann gerade mal 400 Euro im Monat. Kein Wunder, dass die Bergleute von Marikana streikten. Die Mine gehört Lonmin, einem in London ansässigen Unternehmen, das unter dem Namen Lonrho ohnehin eine unappetitliche Vergangenheit in Afrika hatte.
Doch wie konnte das sein im „neuen Südafrika“, das der ANC dominiert, in dem die ohnehin starken Gewerkschaften mitregieren, das moderne Arbeitsgesetze und –regelungen kennt, in dem die früher Benachteiligten über Black Empowerment, Quotenregelungen und Zielvorgaben für einzelne Branchen, darunter die Minen, besser gestellt und gefördert werden sollen?
Am Ende des wilden Streiks hatten die Kumpel eine kräftige Lohnerhöhung erstritten - je nach Einstufung zwischen 11 und 22 Prozent. Damit kommen einige von ihnen in die Nähe der angestrebten 1250 Euro im Monat. Das kann man nur dann eine Verdreifachung nennen, wenn man Netto mit Brutto vergleicht. Denn die von den rock drillers und ihrer Gewerkschaft behaupteten 400 Euro sind so etwas wie der „gefühlte“ Lohn: das, was sie netto ausgezahlt bekommen, während 1250 Euro die dem Unternehmen nun entstehenden Kosten sind. Jedenfalls für die fest Angestellten, das sind zwei Drittel aller bei Lonmin Beschäftigten.
Die komplexe Realität Südafrikas liegt zwischen diesen Zahlen. Man kann in Südafrika gleichzeitig einigermaßen verdienen, krankenversichert sein, Urlaubsgeld bekommen, Rentenbeträge ansparen, Wohngeld kassieren und dennoch eine elende Existenz führen.
Für die Arbeiter zählt erst einmal das Netto. Vom dem müssen die meisten nämlich in der Regel eine größere Anzahl von Menschen mit ernähren, Frau und Kinder, oft auch weitere Verwandte. Der Klassenkampf der Arbeiter ist also verbunden mit der Not der Arbeitslosen (geschätzt auf 25 bis 40 Prozent) und Abhängigen. Selbst Facharbeiter können so der Armut kaum entkommen.
Weil viele Beschäftigte in den Minen immer noch Wanderarbeiter sind, haben einige auch zwei Familien - eine zuhause auf dem Land und eine dort, wo sie leben. Hinzu kommen weitere Folgen der Apartheid. Die Minen sind gehalten, die früheren Männerheime in akzeptable Wohnunterkünfte umzubauen – und tun das teilweise auch. Da das aber aufwändig ist, zahlen sie den Arbeitern als Alternative nicht ungern ein Wohngeld von immerhin 180 Euro. Die haben so mehr Bargeld für ihre vielfältigen Verpflichtungen, leben dann aber in billigen Behausungen in der Umgebung der Minen. Und weil sie nie genug Geld in der Tasche haben, nehmen sie monatlich kleine Kredite auf, für die dann hohe Zinsen und Gebühren fällig werden. Zahlen sie nicht zurück, kann der Kreditgeber Lohnpfändung erwirken.
45 Menschenleben hat der wilde Streik bei Lonmin gekostet, die meisten wurden von der Polizei erschossen. Was während der sechswöchigen Auseinandersetzung ans Tageslicht gefördert wurde und für die meisten Südafrikaner schmerzlich ins Bewusstsein gerückt ist, sind Eigeninteresse, Rücksichtslosigkeit und Versagen fast aller Seiten.
Das beginnt mit der einst so respektierten Gewerkschaft National Union of Mineworkers (NUM), die zwar eine Lohnerhöhung von neun Prozent ausgehandelt hatte, deren Funktionäre aber inzwischen so abgehoben leben und so arrogant sind, dass die Arbeiter sich von ihnen nicht mehr vertreten fühlen. Sie erleben sie als vom Management kooptiert und dadurch kompromittiert. "We hate Zokwana" haben die demonstrierenden Arbeiter gerufen - das galt dem NUM-Präsidenten Sewani Zokwana.
NUM hat viele Mitglieder verloren. Um als Tarifpartner anerkannt zu werden, müssen aber aber 51 Prozent der Belegschaft bei der Gewerkschaft organisiert sein. Deshalb ist der Kampf um die Kumpel so heftig. Die noch junge Gewerkschaft Association of Mineworkers and Construction Union (AMCU) hat viele Arbeiter abwerben können, indem sie ihnen in der krisengeplagten Platinindustrie eine massive Lohnerhöhung versprochen und sie so zum wilden Streik ermuntert hat.
Die das Land regierende Allianz aus African National Congress (ANC), Gewerkschaftsdachverband COSATU und der Kommunistischen Partei (SACP) hat erst einmal den Kopf in den Sand gesteckt und dann die Polizei geschickt. Und selbst nachdem die Beamten 34 Protestierende erschossen hatten, gab es nur einige halbherzige Versuche zur Kontaktaufnahme. Die 270 Arbeiter, die man festgenommen hatte, wurden nach einem alten Apartheid-Gesetz wegen Mordes angeklagt. Das Gesetz, das einst den Rückhalt des ANC in der Bevölkerung schwächen sollte, war nie abgeschafft worden. Erst nach massiven Protesten wurden die Anklagen ausgesetzt.
Regierung und Gewerkschaften schimpften über die "anarchischen Kräfte" und drohten Unruhestiftern mit der vollen Härte des Gesetzes. Für die Lebensbedingungen der Bergarbeiter und ihrer Familien fühlt sich die ANC-Regierung offenbar nicht verantwortlich. Präsident Zuma appellierte vielmehr an die Minen, den in der Mining Charter festgehaltenen Verpflichtungen, u.a. zum Umbau der Heime, zügiger nachzukommen. Erfüllten sie die Verpflichtungen bis 2014 nicht, könnten sie ihre Lizenzen verlieren. Der Minensektor brauche noch "viel Diskussion", so Zuma vor dem Gewerkschaftskongress. Von eigenen Anstrengungen der Regierung sprach er nicht.
Im Rahmen der „Transformation“ versucht sie, den Unternehmen die Bearbeitung vieler sozialer Aufgaben zuzuschieben. Lonmin hat durchaus etwas unternommen, doch der Nutzen blieb begrenzt, viele Projekte sind gescheitert. John Capel von der Bench Marks Foundation, die die sozialen Programme seit Jahren kritisch begleitet, hat sie so beschrieben: „top-down, von Experten geplant und den dort lebenden Menschen dann aufgedrückt“. David von Wyk, einer der Forscher der Stiftung, hat noch drastischer darauf hingewiesen, dass die Pläne von Consultants in Sandton (einem reichen Stadtteil von Johannesburg) gemacht werden, die daran Millionen verdienen. Die Bench Marks Foundation sagt, noch an keinem Ort habe sie eine Stimmung verspürt, dass die Minen das Leben der Menschen wirklich verbessert hätten.
Die Unternehmen ihrerseits machen geltend, dass sie nicht nur Löhne und Gehälter, sondern auch Abgaben und Steuern zahlen - Geld, das die Regierung nutzen könnte und sollte, um die Lebensbedingungen der ärmeren Südafrikaner zu verbessern. Auch und gerade dort, wo dieses Geld erwirtschaftet wird.
Doch wie an vielen Orten Südafrikas hapert es auch in der Umgebung der Minen an „service delivery“, an ordentlichen Häusern, Wasser, Abwasser, Strom, Schulen, Gesundheitseinrichtungen. Die informelle Siedlung Nkaneng, in der sich die streikenden Arbeiter versammelten, gehört zum Regierungsbezirk Madibeng, wo die Misswirtschaft im vergangenen Jahr so groß war, dass die Zentralregierung die Aufsicht an sich gezogen hat. Die Nordwest-Provinz, in der Marikana liegt, ist eine der am schlechtesten regierten des Landes. Was als Arbeitskonflikt ausgefochten wurde, war in vieler Hinsicht auch ein Ausbruch an Frustration über die Lebensbedingungen.
Vor diesem Hintergrund waren die Verhandlungen schwierig, war viel Vermittlungsarbeit nötig. Am Ende haben die Kumpel von ihrer Maximalforderung abgelassen und die kräftige Lohnerhöhung bejubelt. Inzwischen sind sie an ihren Arbeitsplatz zurückgekehrt. Keine Gewerkschaft habe jemals solche Erhöhungen erreicht, verkündete ein Sprecher der streikenden Arbeiter. „Violence works“ hat ein anderer dem BBC-Korrespondenten Andrew Harding gesagt. Dass man mit Gewalt etwas erreichen kann, ist eine Botschaft, die den Südafrikanern im Positiven (als Methode) wie im Negativen (als Schrecken) nur allzu vertraut ist. Auch die Arbeiter haben durch Gewalt und Einschüchterung Schrecken verbreitet, Menschen umgebracht.
Jetzt bekommen sie mehr Geld für ihre gefährliche Arbeit. Doch einen sicheren Platz im neuen Südafrika haben sie damit noch lange nicht.