(la/rwl) Kapstadt hat viele sehr unterschiedliche Stadtteile, und manche besucht man nur, wenn man dort ein bestimmtes Ziel hat. An Silvertown waren wir bisher immer achtlos vorbeigefahren, obwohl es am Weg vom Flughafen in die Stadt liegt und Teil von Athlone ist, das durch sein großes Stadion auf sich aufmerksam macht. Früher hatte dort „Dance for All“ sein Hauptquartier im Joseph Stone Theater - jene hinreißende Ballettschule für township-Kinder.
Wie Athlone insgesamt wird auch Silvertown überwiegend von Coloureds bewohnt. Auf der breiten Klipfontein Road geht es gleich nach dem Stadion (das Sepp Blatter für die Fußball-WM nicht gut genug war) links ab zur Neuapostolischen Kirche. Das Hinweisschild ist gar nicht nötig, wir müssen nur den vielen Autos folgen, die schon weit vor dem großen Betongebäude einparken. Junge Männer in weißem Hemd und Schlips winken uns ein: ein wilder Parkplatz auf einem freien Stück Land. Wir schließen uns den vielen Menschen im Sonntagsstaat an, die zur Kirche streben.
Kirchen in Südafrika sind manchmal sehr groß, diese hat genau 1965 Sitzplätze. Heute Nachmittag waren sie alle besetzt: Der Chor der Kirche führte mit dem Philharmonischen Orchester von Kapstadt Händels „Messias“ auf. „Auditorium open 1630, show starts at 1700“ hieß es auf der Eintrittskarte.
Im Saal sehr viele Coloureds, hier sind die Weißen in der Minderheit. Der Chor sitzt schon auf der Bühne - mehr als 100 Menschen, mehr junge Frauen, aber erstaunlich viele junge Männer. Chöre sind ein wesentlicher Bestandteil der Gottesdienstgestaltung und des Gemeindelebens. Auch im „Informations“-Radio SAFM erklingen am Sonntag die unterschiedlichsten Chöre.
Neben uns sitzt eine junge Frau; sie wohnt nicht in Silvertown, aber ihr Boyfriend singt mit im Chor. Zweimal pro Woche ist Probe, erzählt sie uns, vor einem Konzert wie diesem sogar dreimal. Heute ist nur die erste Besetzung auf der Bühne; insgesamt hat der Chor 200 Mitglieder, wie wir in der Pause erfahren. Die Neuapostolische Kirche hat am Kap einen eigenen Musikalischen Projektmanager, der heute Chor und Philharmoniker dirigiert.
Wenige Minuten nach 17 Uhr geht es los, und der Chor ist ziemlich gut. Händels „Messias“, 1741 geschrieben, ist ein effektvolles Werk - und beim bekanntesten Stück, dem „Hallelujah“, steht das offenbar mit dem Werk gut vertraute Publikum ganz selbstverständlich auf. Unterbrochen von einer kurzen Pause dauert die Aufführung fast drei Stunden. Sehr schnell machen sich die Silvertown-fremden Besucher kurz vor 20 Uhr wieder auf in ihre eigenen Stadtteile.
Dass sich die Menschen aus den verschiedenen Stadtteilen so selten begegnen, hat drei Gründe: die erzwungene Segregation der Apartheidpolitik, das Fehlen öffentlicher Räume und die Furcht vor Kriminalität. Wer mit einer Konzertkarte in der Tasche einen Nachmittag im fremden Territorium verbringt, wird auf sehr angenehme Art daran erinnert, dass auch dort Menschen leben, die Musik lieben und Gemeinschaft pflegen, die an der Moderne und der Mode teilhaben wollen (die meisten jungen Damen standen auf atemberaubend hohen Stöckelschuhen) und die dafür hart arbeiten. Ein Kristallisationspunkt dafür sind die Kirchen. In einem Land, das kaum noch eine öffentliche Moral kennt, geben sie Halt und Orientierung.
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